Auszüge aus dem Tagebuch bzw. Erlebnisse der „alten Fahne“
Vorwort:
Es war an einen kalten Wintertag 1913, als eine Abordnung vom Kriegerverein und dem
Schützenverein Haaren bei Otto Trischen, einen Fahnenlieferanten, vorstellig wurden. Gerade
erst hatte man gemeinsam mit der politischen Gemeinde einen Vertrag abgeschlossen um eine
Krieger und Schützenhalle zu errichten zum Wohle der Gemeinde. Dort sollte alle Jahre im
Wechsel je ein Kriegerfest bzw. ein Schützenfest stattfinden. Für den Rest des Jahres kann die
Halle anderweitig genutzt werden.
Selbstverständlich braucht ein jeder Verein auch eine Fahne, welche die Liebe zum
kaiserlichen Vaterland verdeutlicht. Der Schützenverein hatte 1869 eine Fahne von der
Kirchengemeinde bekommen, mit den Initialen „IHS“. Diese Schriftform enthält in Kurzform
den Namen Jesus auf Griechisch, oder fei nach den römischen Kaiser Konstantin „Unter
diesen Namen wirst du Siegen“
Der Schützenverein wünschte sich eine neue Fahne mit dem Schutzpatron alle Schützen, des
hl. Sebastian. Auch der Kriegerverein, gegründet 1904, wünschte sich eine Fahne, mit dem
Kaiserlichen Reichswappen Schwarz-Weiß- Rot, einen Preußenadler und einen in der Zeit
passenden Spruch, „ Scharfes Auge, sichere Hand und ein Herz fürs Vaterland.
Da aber beide Vereine wenig Geld besaßen und Fahnen halt sehr teuer waren, einigte man
sich gemeinsam eine Fahne anzuschaffen. Eine Seite gehört den Kriegerverein und die andere
den Schützenverein. So kamen beide Vereine ihren Wünschen näher. Schon auf Schützenfest
im Juni sollte die neue Fahne geweiht werden.
Die Kosten von 357,55 Mark, wurden von beiden Vereinen je zur Hälfte getragen. Ein
Arbeiter verdiente damals im Schnitt 60,00 Mark im Monat. Dafür musste er 6 Monate
arbeiten um den Wert der Fahne zu erreichen. Die Kaufkraft in Bier umgerechnet als feste
Größe für die heutigen Zeit (2024): 1,0 Liter Bier kostet 0,24 Mark. Bedeutet das ein Glas
0,2 ca. 5 Pfennige.
Meine Dienstzeit Geschichte beginnt: Ich die Fahne von 1913
Am Samstag den 28. Juni 1913 war mein großer Tag. Am diesen Tag wurde ich geweiht und
feierlich im Dienst gestellt. In der Kirche war jeder Platz belegt, um dabei zu sein. Jeder
Verein des Ortes und auch viele weitere Kriegervereine mit ihren Abordnungen und Fahnen
aus den Nachbarvereinen waren zu gegen. Im Altarraum war ich der Mittelpunkt. Pfarrer
Schmidt lobte beide Vereine für ihre christlichen Werte und der Liebe zum Vaterland, welche
zum Wohle der ganzen Gemeinde dienten. Dann wurde ich geweiht. Hermann, mein erster
Fähnrich, verneigte mich vor den Altar. Und schon wurde ich nass gespritzt. Da fast ein jeder
auch Zigaretten und Zigarren rauchte, bekam ich auch noch eine Wolke von viel Weihrauch
ab, um mich an den Qualm zu gewöhnen.
Danach wurde ich von jedem bestaunt und begutachtet. Meine goldenen Schriftzeichen, den
großen Adler, der zwei Gewehre in den Klauen hält, hinter den Adler eine große Zielscheibe.
Jeder Schuss eine zwölf. Das kaiserliche Wappen Schwarz-Weiß für Preußen und Rot für das
Königreich Sachsen. Von den hl. Sebastian war unter anderen unser Pfarrer sehr angetan und
er erzählte der Gemeinde die Lebensgeschichte des Schützenpatrons.
Nach dem Festakt in der Kirche marschierte ich, getragen von Herman Ernesti, gemeinsam
mit den Mitgliedern des Kriegervereins und des Schützenvereins mit dem Königspaar Franz
Kriener und Maria Lötfering und allen Gästen zum Festzelt.
Für mich war der erste Tag eine sehr schöne Erinnerung, auch wenn dicke Regenwolken am
Himmel drohten und bei 16 Grad nicht gerade sommerlich warm war. Und ich freute mich auf
die vielen Aufgaben, die ich ab jetzt zu erfüllen habe. Schon wenige Tage nach unserem
Schützenfest am 28 September hatte ich schon den ersten Einsatz. Unser geliebte Kaiser
Wilhelm II feierte sein 25-jähriges Thronjubiläum. Aus diesem Grunde wurden feierliche
Reden gehalten und es gab viele Hochrufe. Zum großen Kriegsspiel im Sintfeld, hat man
mich nicht mitgenommen. Egal, ich freu mich schon auf das nächste Fest.
So liege ich wieder eingerollt in irgendeinen Schrank. Nach einiger Zeit hörte ich von draußen
viele Gesänge. Die Stimmung scheint gut zu sein. Welch ein schönes Fest wird es geben.
Vielleicht bekomme ich noch einen neuen Fahnen Kollegen. Man hört schon den Spruch, der
wohl schon ausgedacht wurde: Jeder Tritt ein Brit, jeder Stoß ein Franzos und jeder Schuss
ein Russ.
Aber irgendwie komme ich aus diesem Schrank nicht mehr raus. Ich setzte schon Staub an
und bin mit Spinnen bewohnt. Hat man mich vergessen? Doch dann kommt Licht ins Dunkel.
Hermann ist gekommen. Er sieht ein wenig älter aus und schaut auch nicht so fröhlich drein.
Ich werde ordentlich sauber gemacht und dann sehe ich endlich mein Schützenvolk wieder.
Aber warum schauen sie alle so traurig? Wo sind meine Kameraden vom Kriegerverein? Und
der Kaiser, als Bild, ist auch nicht mehr da. Vielleicht ist er gestorben. Egal, heute ist wieder
Schützenfest, nach 6 Jahren Pause und wir gehen mit viel Musik zum Haus des Theodor
Rinschen, um ihn als König des Jahres 1920 abzuholen. Im Festzelt war aber die Stimmung
etwas getrübt, nach ein paar Bierchen wieder etwas besser.
So wird auch in den nächsten Jahren immer wieder das Fest des Jahres gefeiert. Nebenbei
nahm ich auch an den Beerdigungen verstorbenen Mitglieder teil und an den vielen
Prozessionen der Kirchengemeinde. Doch 1922 vermisste ich das Königspaar in der Kirche.
Es waren viele Schützen in der Kirche und Pfarrer Schmidt gestaltete eine schöne Messe.
Beim Verlassen der Kirche begleitete mich zum ersten Mal der Pfarrer, um auf dem
Kirchplatz das in der Nähe wohnende Königspaar Otto Emmerich und Irma Hesse zu
begrüßen. Ihr Jüdischer Glaube verbietet es die Kirche zu betreten. Trotzdem gab Pfarrer
Schmidt dem Königspaar seinen Segen mit den Worten, das wir doch alle Kinder Abrahams
sind. Er lobte die Toleranz der Schützenbrüder auch Mitglieder anderer
Religionsgemeinschaften aufzunehmen und mit ihnen ein schönes Fest zu feiern. Ich denke
eine Selbstverständlichkeit.
Im Vereinslokal, wo ich mich mal wieder aufgerollt befinde, bekomme ich auch so manche
Vorstandssitzungen mit. Die Planung des Schützenfest 1923 stand an. Ich bin gespannt wo in
diesem Jahr der König wohnt. Doch dann bekam ich die Nachricht mit, dass in diesem Jahr
kein Schützenfest gefeiert wird. Der Grund ist die hohe Inflation. Ein Bier kostet eine Million
Mark. Und wenn man es ausgetrunken hatte und ein neues Bier bestellte, zahlt man plötzlich
10 Millionen.
Doch plötzlich holte man mich doch noch hervor. Es war auf Johanni, den 24. Juni. Es ist ein
trauriger Anlass. Neben meinen Kumpels aus den Nachbarvereinen waren viele, sehr viele
Menschen anwesend, als es zum Friedhof ging. In der dortigen Kapelle wurden die Namen
der 48 Kriegstoten angebracht. Feierlich wurde das neue Ehrenmal eingeweiht. Erst jetzt war
mir klar, warum ich solange warten musste. Wir hatten den Krieg verloren. Der Kriegerverein
wurde schon vorlangen aufgelöst. Und unser Kaiser Wilhelm, hackte in den Niederlanden nur
noch Kleinholz. So war der Friedensvertrag unter anderen schuld daran, dass es in diesem
Jahr kein Schützenfest gab, denn wir waren alle ärmer als die berühmten Kirchenmäuse.
Heute ist alles anders. Die Kirchenglocken läuten länger als normal. Vielleicht steht was
Schlimmes bevor. Mit fast allen Mitgliedern des Schützenvereins ging es an diesem Sonntag
dem 03. Juli 1927 durch das Dorf. Es war kein Schützenfest und keine kirchliche Prozession.
Vielleicht wie früher ein Kaisergeburtstag oder ähnliches. Weder noch.
Es geht in einer sehr großen Halle aus festem Bruchstein und einen mit Dachziegel gedeckten
Dach. Die Wände sind unverputzt. Für uns als Fahnen der Schützenkompanie wurden
Halterungen an der Königsempore angebracht. So konnten auch wir, die Fahne der
Ehrenkompanie von 1869, und ich das Fest in voller Breitseite genießen.
Schon am folgenden Sonntag wurde das erste Schützenfest in der neuen Halle gefeiert, mit
dem neuen Königspaar Hermann Lötfering und Mathilde Schmidt. Die alte Fahne sagte mir,
dass 1907 auch ein Lötfering König war. Man Munkelt, dass ab jetzt in jedem Jahr mit einer 7
am Ende, ein Lötfering - Jahr wird. Wer es Glaubt wird Seelig.
Ein Jahr später. Im Vereinslokal wurde viel Diskutiert. Es wurde der Vorschlag gemacht,
noch in diesem Jahr unser Jubiläum „200 Jahre Schützen in Haaren“, welches 1917 wegen des
Krieges ausfallen musste, in der doch jetzt neuen Halle nachzuholen. Wieder ein extrem
großes Fest in Haaren. Man kann sich daran gewöhnen. Stolz ging ich bei den vielen
Abordnungen mit. Es wurden Gruppen gebildet in traditioneller Kleidung der Jahre 1717,
1767, 1817, 1869 und der heutigen Zeit. Wenn der Verein weiterhin solche großen
Festlichkeiten plant, steht wohl bald ein Anbau an um die vielen Menschen unterzubringen.
1931 war zur Schützenmesse nur die Königin anwesend. Heinrich Kahn, unser neuer König,
wartete im Hause Emmerich neben der Kirche. Als Jude, naja das kennen wir schon, ging es
anschließend gemeinsam zum Friedhof um die Weltkriegstoten zu gedenken. Ob jüdisch,
evangelisch oder katholisch, sie waren alle als Haarener Bürger gestorben, im Kampf ums
kaiserliche Vaterland.
Die Stimmung ist schlecht. Immer wieder gab es Reichstagswahlen. Doch am 30. Januar 1933
gab es eine echte Zeitenwende. Die NSDAP unter Adolf Hitler übernahm die Regierung. Sehr
schnell wurden alle Intuitionen gleichgeschaltet. Obwohl in unserem Ort die katholische
Zentrumspartei die Mehrheit stellte, kam es im Schützenvorstand zu einem sehr heftigen
Streit. Einige Mitglieder des Vorstandes gehörten der neuen Partei an, diese wollten
Veränderungen im Verein. So wurde ich zum letzten Mal von Hermann Ernesti aus dem
Schrank im Vereinslokal geholt. Aber es war kein Schützenfest. Man feierte am 1. Mai den
Tag der Arbeit. Vieles war neu. Braune Uniformen und neue Fahnen schmückten den Ort. Mit
Stolz und Würde begleitete ich meine Schützenbrüder zu diesem fragwürdigen Festmarsch,
als Fackelzug durch unseren Ort. In der Halle angekommen wurde ich gleich wieder
eingerollt. Man wollte wohl mir den Anblick ersparen. Denn auf meinen Stammplatz hing
eine Schwarz-Weiß- Rote Fahne. Das Schwarz in der Mitte als Hakenkreuz. Die Rede von
unserem Führer per Lautsprecher bekam ich nicht mehr mit.
Im Nachhinein kann ich sagen, erst kamen die Hakenkreuze, dann die eisernen Kreuze, und
zum Schluss nur noch Birkenkreuze fern ab der Heimat.
Trotzdem feierte man auch weiterhin das geliebte Schützenfest. Viele Vorstandsmitglieder
wurden durch Parteimitglieder, auch PG genannt, ersetzt. Der ein oder andere mag vielleicht
ein treuer Gefolgsmann dieser Ideologie sein, aber es sicherte auch, unsere Feste durch zu
führen. Einige Vorstandsmitglieder wurden „ersetzt“ unter anderem Oberst Josef Stratmann,
der als Bürgermeister dafür sorgte, dass wir unsere Feste in einer wetterfesten großen Halle
feiern dürfen, und auch der beliebte Major Josef Ernesti der seit 1924 an Seite des Oberst als
treue Seele galt. Auch mein Hermann (Ernesti) musste seinen Platz räumen. Ich bekam mit
Meinolf Künsting einen neuen Fähnrich.
Trotz aller Neuerungen, blieb der Ort sich treu. Wir als Fahnen nahmen weiterhin an den
Kirchlichen Veranstaltungen teil, so wie auf den Beerdigungen unserer verstorbenen
Mitglieder. Nur was mit der jüdischen Bevölkerung gemacht wurde gefiel uns beiden nicht.
Und die Jubelarien erinnerte mich an den Kaiser Wilhelm. Wann ist wieder Holz hacken
angesagt?
Obwohl der neue Fahnenschmuck im Dorf überwiegte, diente ich umso stolzer den
Schützenverein. Ich war der Meinung, 25 Jahre nach der in Dienstsetzung habe ich nichts am
Glanz verloren. Auch wenn das Schützenfest 1938 wegen einer Maul und Klauenseuche erst
im kalten Oktober stattfand.
Das Schützenfest 1939 war einer der wärmsten, die ich erleben durfte. Bei hochsommerlichen
Temperaturen konnte ich den jüngsten König aller Zeiten, Meinolf Peters begrüßen. Mit 21
Jahren rechnete ich mir schon aus, sein 50-jähriges Thronjubiläum 1989, falls ich noch im
Dienst bin, feiern zu dürfen. Ich sah ihn, wie viele anderen aus diesem Ort nie wieder.
Man sagte in Europa gehen die Lichter aus. Eingerollt verbrachte ich ab jetzt viele Jahre, man
könnte meinen fast tausend Jahre, in einen dunklen Schrank. Wer weiß, ob ich das Licht je
wiedersehen werde. Auch mein Fähnrich Kaspar Röhren seit 1939 für mich Zuständig, habe
ich schon lange nicht mehr gesehen. Bestimmt ist wieder Krieg, man kennt das ja. Diese
Übungen werden wohl in diesen Landen wohl gerne gemacht. Leider habe ich kein Singen
gehört. Muss wohl eine Ernste Sache sein.
Und doch, plötzlich und unerwartet geht der Schrank auf. Ohne mich abzurollen geht es die
Leiter herauf, bis ich nur noch viel Stroh sah. Man wickelte mich zusätzlich in einen Jutesack
und deckte mich mit einem Berg an Stroh zu. Das ging so schnell, ich konnte nicht mal richtig
Denken.
Nach ein paar Wochen holte man mich wieder hervor, pflegte mich und steckte mich wieder
in den dunklen Schrank. Seltsame Methoden sind das. Wie lange es wohl diesmal dauert?
Und warum ist da der weiße Fleck an der Wand? Da hing früher ein Bild?
Wir schreiben das Jahr 1948. Acht Jahre verbrachte ich alle die Jahre im Exil. Die tausend
Jahre sind vorbei. Nach 12 Jahren war alles kaputt. Aber jetzt geht es wieder voran. Ich wurde
gepflegt und ein wenig ausgebessert. Man plante wieder ein Heimatfest, wie die
Schützenfeste jetzt heißen. Viele der alten Kameraden sind gestorben. Auch die Hakenkreuze
sind verschwunden. Nur noch Kreuze sind übriggeblieben.
Aber Kaspar (Röhren) ist noch da. Doch bevor es losgeht gab es einen traurigen Anlass. Mein
„Lebensretter“, der 1945 dafür sorgte, dass ich nicht ein Opfer des Krieges wurde, verstarb
plötzlich. So war die Beerdigung von Oberst Ludwig Krusekamp mein erster Nachkriegs
Einsatz. Dann wurde auch noch das Heimatfest abgesagt. Der Grund: kein Festzelt. Verstehe
ich nicht, wir haben doch unsere Schützenhalle. Oder ist die auch kaputt.
1949 war es dann soweit. In alter Tradition feierten wir wieder unser Schützenfest. Das Zelt
stand auf „Richters Hof“. Viele neue Gesichter waren jetzt im Ort. Wie ich dann erfahren
habe, waren darunter viele Flüchtlinge aus Schlesien und ausgebombte aus dem Ruhrgebiet.
Deshalb konnte der Verein die Schützenhalle nicht nutzen. In den nächsten Jahren wurde bei
Lukeis Scheune gefeiert.
1952 war es dann wieder soweit. Nach 15 Jahren betrat ich wieder die Schützenhalle und
bekam auch wieder mein Stammplatz zugewiesen. Fähnrich war im diesem Jahr Meinolf
Münster. Er war aber gesundheitlich sehr angeschlagen, so dass Kaspar Röhren noch mal
einsprang.
1953 hatten wir wieder einen sehr jungen König mit 21 Jahren. Jedoch, unsere Königin
Elisabeth Rüsing, schön sah sie aus, war noch jünger. Da sie nicht mit 18 Jahren volljährig
war, musste sie unter Begleitung der Eltern um 21.00 Uhr die Halle verlassen.
1954 auf dem Kirmestage am 17. Oktober wurde das Kriegerehrenmal erweitert. 31 Jahre
nach der ersten Einweihung kamen weitere 139 Namen hinzu. Ich bin jetzt schon 41 Jahre für
diesen Verein im Dienst. Aber für solche Momente wurde ich nicht geschaffen. Man sollte
doch diese Tradition doch endlich abschaffen.
Mit Hermann Schulte bekam ich in diesem Jahr (1954) wieder einen langfristigen Fähnrich.
Und wieder wurde ein amtierender Oberst zu Grabe getragen. Heinrich Leniger war mit 54
Jahren noch viel zu jung um abzutreten.
Mit dem neuen Oberst Meinolf Schäfers kamen zahlreiche Neuerungen ins Vereinsleben. Die
Schützen wurden in Zügen eingeteilt. So begleitete ich ab jetzt mal die Könige aus dem
Unterdorf oder aus dem Oberdorf. Am meisten jedoch kamen die Könige aus dem Mitteldorf.
Der Salzbrunnen wird später nur noch Königsallee genannt.
Ab 1960 kam die neue Uniform. Neben den schon bestehenden grünen Schützenhut, kam ein
grüner Schützenrock mit schwarzer Hose hinzu. Ein Liter Bier kostet heutzutage 1,18 DM.
Bedeutet für ein 0,2 Glas musste 0,24 DM, oder 24 Pfennige bezahlt werden. Soweit die
Statistik.
Doch dann kam auch für mich eine Veränderung mit der ich gar nicht gerechnet habe. Der
Schützenverein schaffte sich für 2.400 DM eine neue Fahne an. Ab jetzt gehöre ich zu den
„alten Eisen“. Ich war nicht mehr zeitgemäß. Kaiser Wilhelm, Friederich Ebert und „Papa“
Hindenburg waren meine Begleiter. Von einen Adolf Hitler kam das tausendjähriger Reich
und nach 12 Jahren Coca-Cola. Konrad Adenauer legte die neuen Richtlinien fest und Ludwig
Erhard sagte immer wieder was von Maß halten. Und jetzt war ich für meine geliebten
Schützen nach 47 Jahren nicht mehr zuständig.
Ich kam in die Ehrenkompanie. Dafür marschierte ich ab sofort als kleines Trostpflaster
direkt hinter den Hofstaat mit. Die jetzt ganz alte Fahne von 1869, mein alter Kumpel in all
den Jahren, wurde außer Dienst gestellt. Und fand beim Fahnenwart Josef Stümpel weiterhin
eine Bleibe. Bei ihm in sein Haus an der heutigen Karlstraße waren wir Fahnen seit dem
Kriegsende gerne dort. Wir wurden gehegt und gepflegt. Gerne schwellten wir in Erinnerung,
auch wenn „IHS“ immer etwas mit dem Schweigegelübte behaftet war. Und jetzt kam die
schwatzhafte Fahne, von uns „Brüderchen“ genannt hinzu. Immer mit sichern Auge, guter
Schuss und den Brudergruß.
1964 gab es einen Anbau an die Schützenhalle. Der alte Eingang wurde nicht mehr benötigt
und später zugemauert. Hier wurde eine Musikbühne errichtet. Ebenso haben sich die Tänze
der vielen Tanzpaare mit der Zeit geändert. Statt Walzer, jetzt Letkiss und Boogie woogie.
Ein bisschen Rock n Roll und viel Yeah Yeah Yaehs. Man überlegt schon wie man die
jugendlichen wieder in den Griff bekommt.
Im Jahr 1967 erlebte ich ein Novum. Der amtierende Schützenkönig Heinrich Traphan erlitt
einen Verkehrsunfall. So musste der Ehemann von der Königin Hedwig Lukei, Ferdinand,
einspringen. Sie gaben ein gutes Paar als altes Königspaar 1966 ab. Jedoch kam die
Diskussion auf, von der Praxis abzurücken, den neuen König erst nach dem Festzug am
Schützenfest-Sonntag zu proklamieren. Sondern doch schon ab dem Vogelschießen. Somit
hat dann der neue König im darauffolgenden Jahr keine Verpflichtungen mehr. Ab 1970
wurde diese Maßnahme eingeführt.
Auch wurde 1967 das 250-jähriges Jubelfest gefeiert. Viele Nachbarvereine waren anwesend.
Ein Zelt neben der Halle aufgebaut. Am Schützenfest-Samstag fand ein Höhenfeuerwerk viel
Beachtung. Eine so große Feier habe ich seit 1928 nicht mehr erlebt. Auch mein alter Kumpel
„IHS“ war auch anwesend. Und unser Jungspunt, von mir Brüderchen genannt, zeigte sich als
sieben jähriger von der besten Seite. Ich muss ja zugeben, ich war sehr Eifersüchtig, damals
1960. Aber heute verstehen wir uns besten. Sie sorgte für einen kleinen Aufschwung an
Mitglieder. Und wenn diese das Alter von 55 Jahren erreichen, dann kommen diese sowieso
alle zu mir.
Und doch ist mir noch was aufgefallen. In den zwei Weltkriegen wurden viele junge Haarener
totgeschossen. Heute fahren sie sich mit Motorrädern und Autos viel zu schnell. Ich bin es
leid immer öfters aus solchem Anlass auf den Friedhof zu erscheinen.
1971 gab es einen besonderen traurigen Fall. Der Schützenbruder Josef Wulf, geboren 1951,
leistete seinen Grundwehrdienst bei der Bundeswehr ab. Hierbei verunglückte er tödlich beim
Verladen von Munitionskisten auf einen LKW. Soweit ich mich erinnern kann ist er der letzte
Soldat aus Haaren, der für sein Land gestorben ist. Er wurde auf unseren Friedhof mit einer
großen Trauergemeinde beerdigt. Heute ist sein Grab verschwunden, genauso wie die vielen
Toten die auf den Schlachtfeldern geblieben sind.
Ich spüre mein Alter schon. In diesem Jahr werde ich 60. In den vielen Jahren war ich bei
allen festlichen Veranstaltungen, Beerdigungen, Kreisschützenfesten und besonderen Jubiläen
zugegen. Durch Regen, Staub und Sonnenschein habe ich an Glanz verloren. Auf Deutsch,
der Lack ist ab. Wenn ich auch solange im Dienst sein sollte wie mein Kumpel „IHS“, dann
muss ich noch mindestens bis 2004 durchhalten.
Im Mai 1972 kam ich zur der Firma Wärmeling auf den Fahnen OP-Tisch. Mein Stoff ist
stark beschädigt. Es haben sich Risse gebildet. So wurden meine Insignien wie Wappen,
Adler und Schrift getrennt und ich bekam einen neuen grünen Unterstoff. Anschließend
wurde alles wieder zusammengenäht. Nur der hl. Sebastian war noch gut im Schuss. Für
1.865 DM erstrahlte ich im neuen Glanz. Und das sahen dann auch die vielen Schützen zu
dem darauffolgenden Schützenfest im Juli.
Beim Schützenfest 1972 wurde Josef Kloppenburg als König von mir abgeholt. Er war so
begeistert von meinem neuen Glanz, dass er glatt vergessen hat, die Königskette zum
Kirchgang mitzunehmen. Aber einen kleinen Wing von mir in der Kirche und ein irdischer
Götterbote brachte diese durch die Sakristei.
1975 gab es einen neuen Schützenvorstand. Auch Franz Klute (Ott) der seit 1963 mich
geduldig getragen hatte, geht in die Schützenrente. Er ist der erste Schütze aus dem Verein,
der als Fähnrich zum Ehrenoffzier ernannt wurde. Eine neue Regelung, wer 12 Jahre im
Vorstand war bekommt diesen Titel. Also Männers, wer ist der nächste, der mich so lange
(er)tragen kann.
Und schon wieder sind wir 1000 Jahre alt. Nicht ich und auch nicht das III. Reich, aber die
Ortschaft Haaren. Schon 830 soll hier eine Kirche gestanden haben. Aber da um 975 ein
Mönch im Kloster Corvey unseren Namen „Haaren“ ins Pergament kritzelte, haben wir ein
Grund zum Feiern. Auch wir, die drei Fahnen des Schützenvereins haben ihren Auftritt. Die
alte „IHS“ ist schon 106 Jahre alt. Im Fahnenstock ist zwar schon der Holzwurm, aber
ansonsten hat sie sich gut gehalten. Ich selbst bin schon 62 Jahre alt, aber ich wieder fit wie
ein Turnschuh. Und auch mein Fähnrich Konrad Leniger hat ein Grund zur Freude. Er ist 12
Jahre jünger wie ich und feiert sein 50. Lebensjahr. Und dann unser „Brüderchen“ aus dem
Jahr 1960 ist mittlerweile schon 15 Jahre bei uns.
Die Tausend-Jahr Feier dauerte 4 Tage. Fronleichnam ging es schon los. Aber es war sehr
kalt. Mit 8 Grad warten wir auf den Schneefall. Trotzdem es war für mich ein
außergewöhnliches Erlebnis. Wann kommt das nächste Großereignis. Ich bin ein Experte
darin.
Mein armer Fähnrich. Hoffentlich hält er durch. Mit 36 Grad haben wir eine sehr heiße Party
auf Schützenfest. Schon allein wegen dem Sonnenreichen Schützenfest bleibt unser König
Peter Niggemeier 1976 im Gedächtnis. Es war ein sehr schönes Fest.
Die Jahre plätschern nur so dahin. „Brüderchen“ und Ich hatten viel zu tun. Die
Veranstaltungen haben an Dichte zugenommen. Wir könnten so viel erzählen über all die
Feste , Schützenkönige und
Anekdoten. Das schönste aber seit 37 Jahren wurde ich nicht mehr in irgendeinen Schrank auf
Dauer eingesperrt. Eine friedliche Zeit, vor den Kriegen kam ich nur auf eine Einsatzzeit von
nur 20 Jahren. Und 15 Jahre verbrachte ich im Dunkeln. Und dann im Jahr 1986 kam ein
Ereignis auf mich zu, womit ich nie gerechnet habe.
Es begann alles sehr normal. Königsoffizier Gerhard Siekaup schoss den Vogel ab, und wir
Fahnen erlebten mit Ihm ein schönes Schützenfest. Getragen wurde ich schon seit 1979 von
Heinrich Schäfers, dessen Gesundheit zu diesem Zeitpunkt nicht zum Besten Stand. Im
September ging es zum Kreisschützenfest nach Essentho. Hierbei treffe ich immer auf die
vielen Kollegen aus den Vereinen des Altkreises Büren. Seit 1960 nehme ich schon an dieser
Veranstaltung teil. Und wie immer ist es für mich das Ende einer guten Schützenfest-Saison.
Doch plötzlich, ich lag im Festzelt und schlummerte so vor mich hin, kam großer Jubel auf.
Das nächste Kreisschützenfest findet in Haaren statt, denn Gerhard Siekaup ist Kreiskönig
1987. Zum ersten Mal konnte ich die Standarte des Kreisschützenbund in unseren Reihen
begrüßen. Auf der Heimkehr erzählte „IHS“, im Schrank, dass er Kirchenglocken gehört
habe. Ich denke das war ein Freuden Geläute.
So kam das Jahr 1987 auf mich zu. Mit einem neuen Fähnrich, Heinrich Henke, ging es in die
Aufregende Schützenfest-Saison. Unser Oberst Josef Kloppenburg wurde zum Kreisoberst
gewählt. Beim Schützenfest hatten wir wieder einen Lötfering als König. Es ist Bernhard
Lötfering, der die Tradition mit der „7“ fortsetzte. Denn 1977 war sein Bruder Hans-Gerd
König, und 1967 sein Onkel Franz Lötfering, sowie 1957 Bauunternehmer Hermann
Lötfering, der zurzeit unser Ortsvorsteher ist und Major im Schützenverein. Viele Gäste auf
Grund des Bevorstehenden Kreisschützenfest waren anwesend. Ich machte meinen Dienst
immer so, wie ich es gelernt habe. Und freue mich schon auf die nächste große Aufgabe.
Drei große Zelte standen auf dem Sportplatz, wo wir sonst immer unseren Vorbeimarsch
tätigen. Auch die Schützenhalle, gerade 50 Jahre alt, war bis auf den letzten Platz besetzt.
Wir Fahnen aber hatten eine Sonderaufgabe. Zuerst holten wir unsern Kreiskönig mit der
gebotenen Würde aus dem Gartenweg ab. Noch nie hatte ich mich vor einen Kreiskönig als
Fahne schlagend die Ehre erwiesen. Schon am Tag zuvor auf dem Friedhof war die
Schützenmesse mit anschließender Totenehrung und dem Zapfenstreich ein besonderes
Gefühl. Gemeinsam mit allen Schützen aus Haaren ging es zum Antreten auf des
Ausweichsportplatz in die Nordstraße.
49 Vereine warteten auf unsere Ankunft. Zuerst hatten wir große Sorgen, denn ein paar
Regentropfen vielen vom Himmel. Doch die „Freudentränen“ der Götter hörten rechtzeitig
auf. Der große Umzug setzte sich in Bewegung. Unvorstellbar viele Zuschauer waren
zugegen. Im Festzelt angekommen, bekamen wir, die Fahnen aus Haaren einen Ehrenplatz.
So konnten wir das Geschehen gut verfolgen, bis der Schützenverein aus Bleiwäsche jubelte.
Für uns Fahnen kehrt jetzt wieder Ruhe ein.
1992 feierte der Schützenverein wieder Geburtstag. Vor 275 Jahren am 13. April stellten die
Haarener den Antrag, auf Erneuerung der Statuten oder so. Jedenfalls kamen wieder viele
Gastvereine nach Haaren und ich konnte meine alten Kumpels und so manch eine neue Fahne
begrüßen.
Das Fest war längst nicht so groß wie das Kreisschützenfest. Trotzdem unsere Schützenhalle
war wieder proppenvoll. Und wir hatten einen Kaiser. Josef Stümpel errang zum ersten Mal
für den Schützenverein diesen Titel, im Wettstreit mit den noch lebenden Königen der
vergangenen Jahre. Ein neuer Fahnenoffizier ist ab diesem Jahr für mich Zuständig. Er wird
mich 12 Jahre lang mein treuer Begleiter sein. Auch darf ich bei ihn wohnen. Zum Dank wird
er 2003 dann zum Ehrenoffizier ernannt.
Irgendwie sieht die Schützenhalle anders aus. Ab sofort (1995) marschieren wir immer durch
einen sehr großen Thekenraum in die Schützenhalle rein. Mein Stammplatz ist auch weiterhin
vorhanden. Ab 1987 gab es eine Veränderung am Schützenfest-Sonntag. Denn dann wurden
wir Fahnen um 18.00 Uhr feierlich in einer Gaststätte gebracht, die nur ein paar Meter von der
Halle entfernt liegt. Während die anderen sich Vergnügen, werden wir Fahnen, durch die
Terrasse, eingerollt wieder zur Halle gebracht. Denn wir werden ja noch am Schützenfest-
Montag noch gebraucht.
Das „Fahne wegbringen“ hat in Haaren nach den II Weltkrieg eine kleine Tradition. Von 1948
bis 1972 wurde ich zum Haus des Josef Stümpel gebracht. Begleitet wurde ich von der
zweiten Fahne, zuerst von der „IHS“, ab 1960 von der neuen Fahne (Brüderchen). Neben den
Fähnrichen und Fahnenoffiziere, nahm das Tamborcorps an diesen kleinen Festzug teil.
Dann ging es von 1973 bis 1975 zur Gastwirtschaft Erftemeier. Leider ist der Weg sehr lang.
So kamen wir Fahnen in die Gastwirtschaft Mertens (Soppen) von 1976 bis 1986. Durch den
Betreiberwechsel von Mertens nach Popken, gab es eine Meinungsverschiedenheit. Wir
Fahnen wurden ab 1987 zum Fischereck gebracht.
1998 machten wir Fahnen einen Betriebsausflug ins Grüne. Schützenkönig war im diesem
Jahr Martin Winkel. Der wohnt in Neuböddeken. Ein kleiner Weiler ca. 2,0 km von Haaren
entfernt. Zum ersten Mal habe ich Wald gesehen, tiefe Täler und den Duft der Landwirtschaft.
Das hat mir viel Spaß gemacht. Mal was anderes, als diese immer wiederholende Schützenfest
Allerlei.
Millennium Chaos sollte stattfinden. So habe ich es gehört. Alles Digitale stürz ab. Gut das
wir Fahnen aus altem Holze und Stoff sind. Die Menschheit hat überlebt. So konnten wir
friedlich in die Bürener Straße zum Königshaus Schallenkamp gehen. 1950 waren wir schon
mal da. Damals war es ein Johannes. 50 Jahre später 2000 ein Wigbert. Das ist unser
Millennium.
2003 bekam ich einen sehr jungen kräftigen Fähnrich. Wenn der Ralf (Stümpel) vor dem
Königshaus wedelt, bin ich hin und ganz schön weg. Das bedeutet, ich habe Angst vom Stock
zu fallen. Auch mein Kumpel, die sogenannte neue Fahne hat dieselben Symptome. So kamen
wir ein Jahr später zur Fahnenklinik nach Neuenbeken. Hier bekam ich die notwendigen
Ausbesserungen. Noch schlimmer betraf es die neue Fahne (Brüderchen). Diese bekam einen
neuen Stoff, der zwischen den anderen originalen Stoffen gelegt und eingenäht wurde.
Fahnenärztin Andrea Wulf aus Haaren, sie arbeitet in dieser „Klinik“, hat uns beiden
bestätigt, dass wir über kurz oder lang in den Ruhestand gehen müssen. Die Feuchtigkeit hat
unseren Stoffen zugesetzt. Ich bestehe aus Naturseide und bin mittlerweile 91 Jahre alt, wie
der alte Kaiser Wilhelm I., Brüderchen besteht aus Kunstseide, und ist noch sehr jung mit 44
Jahren. Diese Fahne hat aber jetzt ein Problem, deren Fähnrich bekommt Rückenschmerzen,
weil diese erheblich schwer geworden ist.
Der Verein hat einen neuen Fahnenschrank angeschafft. In diesem belüfteten Schrank werden
wir nicht mehr eingerollt. Sondern hängen jetzt an unseren Stöcken senkrecht nach unten.
Dort ist auch mein alter Kumpel aus alten Zeiten und eine blaue Fahne, die vom Gesangverein
kommt und uns immer die neusten Lieder vorsingt. Allerdings, wir sind nur an die
Schützenlieder gewöhnt.
Ab 2007 bekam ich einen neuen Fähnrich. „Tante Konny“ (Konrad Schmidt) pflegte mich so
sehr, dass ich bei jeder Schützenzeremonie meine Freude hatte. Anders war es bei Toni
Kolsch ab 2011. Man merkt doch jetzt meine alten Tage an. Ich brauche halt einen alten
Fähnrich, der nicht so schwungvoll mit mir umgeht. Dabei macht doch dieser junge Fähnrich
alles richtig.
2014 geht es nochmal nach Neuböddeken. Dieses Mal wurden wir mit dem Bus dorthin
gefahren. Man ist halt schon schlecht zu Fuß. Auf dem Rückweg machten wir eine Pause bei
Franjo am Ortseingang. Für die Schützen gab es Wasser, für uns Fahnen aber nichts.
Welch ein Tag. Im August 2017 erlebte ich wohl den Höhepunkt meiner Karriere. Der
Schützenverein feiert sein 300-jähriges Bestehen. Und ich als 104-jährige darf dabei sein.
Von draußen komm ich her. Weit draußen aus dem Ort bei der Spedition Franjo ging es los.
Den ganzen Ort hinunter, mit Vorbeimarsch, begleiteten wir Fahnen unser Kaiserpaar
Sebastian Schulte. Mit dabei meine Kumpels aus den Nachbarorten. Die Schützenhalle war
wie immer sehr voll. Ich wurde auch in einem Buche verewigt. Seit 1992 vor 25 Jahren habe
so ein Fest nicht mehr erlebt. Abends gab es eine Lasershow. Da waren wir aber schon wieder
in unseren Schrank.
Der Schützenvorstand spricht von neuer Fahne. Ich wurde noch einmal „Notoperiert“ mit dem
Hinweis, dass es nicht mehr lange dauert. Der Stoff ist nicht mehr zu retten. In all den Jahren
haben Regen, Hitze und Sonne mich zugesetzt. Vielleicht bin ich auch froh darüber in den
Ruhestand zu gehen.
2019 bekomme ich noch einmal einen neuen Fähnrich. Titto, mit Namen Christoph Schäfers.
Er wird aber noch nicht der letzte sein. Denn der Vorstand diskutiert noch über einen
Nachfolger und das kann lange dauern. Deshalb hingen wir Fahnen auch sehr lange im
Schrank. Es wird wohl doch kein Krieg sein? Ich kenne das ja schon zu genüge. Oder
diskutieren die noch. Erst nach zwei Jahren wurden wir aus dem Schrank befreit. Wie ich
hörte war eine Pandemie ausgebrochen und viele Menschen sind gestorben. Mein Vorstand
hat überlebt. Schützen sind halt sehr zäh.
Und ich bekam noch einen Fähnrich. Diesmal ist es einer der bei seiner Wahl gerade mal erst
17 Jahre alt war. Man was hat er einen Schwung drauf. Der will mich doch nicht um die Ecke
bringen. Damit er ordentlich Schützenfest feiern kann hat er seinen Papa als Fahnenoffizier
engagiert. So kann er sich auch mal einen Schnaps genehmigen. Die Rede ist von Marlon Keil
und sein Vater Andree.
Heute ist der Tag gekommen. Nach 111 Jahren gehe ich in den Ruhestand. Es war eine
schöne Zeit mit euch, meine lieben ans Herz gewachsenen Schützen. Viele von euch habe ich
begleitet. Ob bei Festen, kirchlichen Veranstaltungen oder auf Beerdigungen. Vom Kaiser
Wilhelm, deren Wappen ich trage vom alten Kaiserreich, über die Weimarer Republik mit
Ebert oder Hindenburg, das dritte Reich mit Adolf oder die Bundesrepublik von Adenauer bis
Scholz.
10 Obristen und 15 Fähnriche haben mich begleitet. 94 Schützenfeste, 62 Kreisschützenfeste
stehen auf mein Konto. Und von 1913 bis 2024 so ca. an die 1.400 Schützenbrüder die mich
bestaunten. Es gab aber auch trauriges. So waren die Anfangsjahre sehr schwer. Gleich der I.
Weltkrieg 1914 – 1918, die Inflation 1923, dass tausendjährige Reich, welches nach 12
Jahren, mit dem II Weltkrieg 1939 – 1945 zu Ende war, die Besatzungszeit, wo man mich
verstecken musste. Allein 17 Jahre musste ich in verschiedenen Schränken mein Dasein
fristen.
Jetzt freue ich mich auf meinen Ruhestand. Mit meinem alten Kumpel „IHS“ kann ich jetzt
von der guten alten Zeit plaudern. Immerhin hat er mich in den Jahren 1913 bis 1960 ständig
begleitet, mir Tipps gegeben, dass ich vor dem Königshaus alles richtig mache.
„Brüderchen“ die neue Fahne von 1960, wird jetzt zur alten Fahne. Und es wird eine neue
Fahne kommen, die auch in diese Zeit passen wird. Möge sie solange und so erfolgreich sein
wie ich. Mit euch Haarenern, friedliche Feste zu feiern, euch Trost zu spenden, wenn die Zeit
auch für euch gekommen ist.
Einen Wunsch haben wir alten Fahnen doch noch. Vielleicht kommen wir in einen Schrank
mit Schaufenster. Dann würden wir doch noch auf unseren alten Tagen was mitbekommen.
Ich eure alte Fahne, die kaiserliche von 1913
Haaren, im Mai 2024